Gefühlsstarke Kinder - Bestseller-Autorin Nora Imlau im Interview
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Es gibt Kinder, die stärker fühlen, als andere. Sie drücken Gefühle stärker aus und tun sich schwerer, Emotionen wie Freude oder Wut zu regulieren. Für Eltern sind diese überschäumenden Gefühle oft sehr herausfordernd und mit vielen Fragen verbunden.
Antworten auf diese Fragen hat Nora Imlau, die bekannte Journalistin und Autorin macht sich stark für diese besonderen Kinder. Sie ersetzt diese vermeintliche Schwäche durch eine Stärke - Gefühlsstärke. Mit “So viel Freude, so viel Wut” schrieb sie einen Spiegel-Bestseller. Es folgte “Du bist anders, du bist gut” und knüpfte nahtlos am Erfolg des ersten Buches an. Sie ist die Botschafterin für Kinderrechte unserer Zeit.
Wir wollten von Nora wissen, wie sie selbst die Herausforderung als vierfache Mutter meistert, woran wir erkennen können, ob unser Kind gefühlsstark ist und wie sich diese Stärke in den verschiedenen Entwicklungsstufen vom Baby bis zum Teenager bemerkbar macht. Wir sind tief inspiriert, von Nora´s Sicht auf diese Kinder und dankbar, dass sie diese mit uns geteilt hat.
Du bist Autorin und engagierte Kämpferin für Kinderrechte. Für die, die dich bisher noch nicht kennen, magst du dich einmal kurz vorstellen?
Da hast Du schon zwei ganz wichtige Aspekte genannt: Das Schreiben, das mein Beruf ist, und mein Einsatz für Kinderrechte und eine Familienkultur, in denen Eltern und Kinder sich mit Liebe und Respekt begegnen. Ich bin selbst Mutter von vier Kindern zwischen 0 und 12 Jahren und habe von ihnen übers Elternsein mehr gelernt als aus jedem Fachbuch.
Dein Herzensthema ist das der “gefühlsstarken Kinder”. Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff und wie kann ich mein Kind ideal durch diese Gefühle begleiten?
Gefühlsstarke Kinder nenne ich Kinder, die von jedem Gefühl und jedem Bedürfnis nur die Extremvariante zu kennen scheinen. Wie kleine Flummibälle springen sie pausenlos hin und her zwischen überschießender Freude, tiefster Traurigkeit und wildester Wut. Sie fordern ihre Eltern mit ihrer Willensstärke, ihrer Hartnäckigkeit, ihrer immensen Sensibilität und ihrer Rastlosigkeit ganz schön heraus. Wenn wir jedoch verstehen, dass sie im Grunde nur eine ganz enge, geduldige Begleitung durch ihre unbändigen Gefühle brauchen statt Strafen, Druck und Machtkämpfe, wird alles leichter.
© Nora Imlau
Nun bist du ja selbst Mutter von vier Kindern, vom Baby bis zum Teenager, wie gelingt dir der Spagat, all diesen unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden und dabei noch Ressourcen für dich zu haben?
Indem ich mich von jedem Perfektionismus verabschiedet habe und jeden Tag gemeinsam mit meinem Mann aufs Neue gucke: Was brauchen unsere Kinder jetzt, was brauchen wir selbst, und wie bekommen wir all das unter einen Hut? Für mich ist es ganz wichtig, mir stets bewusst zu sein, dass nicht ich alleine für die Befriedigung aller Bedürfnisse in unserer Familie zuständig bin, nur weil ich die Mutter bin. Mein Mann trägt diese Verantwortung ganz genauso, und unsere Kinder können einander auch gegenseitig Bedürfnisse erfüllen. Außerdem musste ich lernen, Unterstützung anzunehmen. Wir begleiten vier Kinder ins Leben, darunter ein gefühlsstarkes Kind, das uns besonders braucht. Wir haben Jobs, für die wir brennen, eine Beziehungen, die wir pflegen und tragen jede Menge Verantwortung. Da ist es nicht faul, sondern vernünftig, jede Form von Hilfe anzunehmen, die wir kriegen können - von der Haushaltshilfe bis zum Pizza-Lieferservice an besonders stressigen Tagen.
Thema Baby: Kann man bereits in dieser frühen Lebensphase erkennen, ob das Kind gefühlsstark ist? Also beispielsweise ein sogenanntes “Schreibaby” oder wenn es mehr Nähe braucht als andere?
Tatsächlich fallen die meisten gefühlsstarken Kinder bereits in der Babyzeit durch ihr besonderes Wesen auf. Sie sind meist die klassischen High-Need-Babys, die wenig schlafen, viel weinen und in ihrer Widersprüchlichkeit und Hartnäckigkeit nicht einfach zufrieden zu stellen sind. Gleichzeitig wird nicht aus jedem Schreibaby ein gefühlsstarkes Kind: manche Babys haben einfach etwas Schwierigkeiten beim Ankommen, und werden dann deutlich ruhiger. Andere Kinder zeigen ihr intensives gefühlsstarkes Temperament erst nach der Babyzeit. Es gibt also ganz viele Veränderungsmöglichkeiten in alle Richtungen, auch, weil wir Eltern durch unseren Umgang mit unseren Kindern deren Gehirn und Nervensystem prägen und verändern. Geborgene Babys entwickeln ein Vertrauen in sich und ihre Umwelt, das sie fürs Leben stärkt - ob sie gefühlsstark sind oder nicht.
Thema Trotzphase: Hast du einen “Survival-Tipp” für den klassischen Gefühlsausbruch in der Öffentlichkeit? Hier gibt es oft den Ratschlag, den “Bockanfall” zu ignorieren. Wie bewertest du das als Expertin?
Von Ignorieren halte ich gar nichts. Das ist eine Strafmaßnahme, die kindliches Verhalten abschalten soll, indem eine unangenehme Konsequenz darauf folgt. Denn, ignoriert zu werden ist für unsere Kinder ein ganz schlimmes Gefühl, sie sind ja auf unsere Zuwendung angewiesen, um zu überleben. Außerdem können Kleinkinder kognitiv nicht zwischen einer Ablehnung eines Verhaltens und einer Ablehnung ihrer Person unterscheiden. Das ist für sie alles eins. Ignorieren wir sie während eines Wutanfalls, kommt bei ihnen an - ich bin gerade nicht liebenswert, nicht einmal beachtenswert. Das ist schrecklich. Was ich stattdessen vorschlage ist, dabei bleiben, freundlich und zugewandt bleiben und dem Kind signalisieren, dass es nicht alleine ist. So schicken wir unserem Kind direkt ins Gehirn die Botschaft, dass es von uns nichts zu befürchten hat, sondern ganz in Ruhe ruhig werden kann.
© Nora Imlau
Thema Schule: Gerade für bewegungsfreudige Kinder stellt dies eine Herausforderung dar. Außer Sport und die Pausen gibt es wenig Raum sich auszuleben. Was ist deine Meinung hierzu?
Ich wünsche mir da eindeutig eine Veränderung im Schulalltag, die gerade dem hohen Bewegungsbedürfnis gefühlsstarker Kinder Rechnung trägt. Es ist wichtig, dass Lehrer*innen verstehen, dass Hibbeligkeit während des Unterrichts keine Frage mangelnder Selbstdisziplin ist, sondern ein Signal für einen hohen Leidensdruck. Sich bewegen wollen, aber nicht dürfen, ist ein schreckliches Gefühl. Deshalb sollten insbesondere Grundschulen verstärkt auf Lernformen setzen, bei denen Kinder nicht so lange still sitzen müssen, sondern sich frei bewegen dürfen.
Thema Pubertät: Diese Phase der Gefühlsachterbahn stellt ja oft eine harte Belastungsprobe für Eltern und Teenager dar. Hast du für verzweifelte Eltern einen konkreten Tipp durch diese herausfordernde Zeit?
Am wichtigsten finde ich, sich klar zu machen: Alles, was mein Kind jetzt tut, tut es nicht gegen mich, sondern für sich. Stark um die eigenen Bedürfnisse zu kreisen ist in dieser Lebensphase nicht egoistisch, sondern ein wichtiger Teil der Selbstfindung. Teenager zu sein ist unglaublich anstrengend, körperlich wie seelisch. Deshalb gibt es hier für unsere Jugendlichen keine zusätzlichen Anforderungen und Erwartungen, keine Pflichten, keinen Druck.
Ziehst du eine Grenze zwischen “Gefühlsstärke” und der heutzutage oft schnell gefällten Diagnose “ADHS”?
Gefühlsstärke ist ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Manche gefühlsstarken Menschen haben zusätzlich noch ADHS, aber längst nicht alle. Die genaue Diagnose kann nur ein*e Psycholog*in oder ein*e Psychiater*in stellen. Sie dient nicht der Stigmatisierung und ist auch nicht automatisch mit der Gabe von Medikamenten verknüpft, sondern ist einfach ein Weg, Menschen mit einem hohen Leidensdruck Hilfsangebote zugänglich zu machen.
Danke Nora, dass du dir die Zeit genommen hast. Wir sind sicher, dass du durch dieses Interview vielen Eltern einen neuen Blickwinkel auf ihre Kinder geschenkt hast und hoffen,
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